Was Marseille zur vorrangigen Sicherheitszone macht

Der französische Präsident François Hollande hatte während seiner Wahlkampagne versprochen seinen besonderen Augenmerk auf die Großstädte mit schwierigen Sicherheitsproblemen zu legen. Definiert wurden diese “Zonen mit vorrangiger Sicherheit” (zones de sécurité prioritaires) als Gebiete mit tief verwurzelter Kriminalität im Bewusstsein der Bevölkerung. 15 solcher Zonen wurden bisher festgestellt, unter anderem gehört auch Marseille dazu.

Die Zeitung Libération widmet sich in der Ausgabe vom 6. September der Situation in Marseille, der ärmsten Großstadt Frankreichs. Die Situation der Stadt ist derart alarmierend, dass die französische Regierung einer interministerielles Komitee zur Analyse der Situation einberufen hat. Das größte Problem ist der wirtschaftliche Niedergang durch die gesunkene Bedeutung des Hafens, die eine wirtschaftlich positive Entwicklung und Anreiz zur Ansiedlung von Unternehmen verhindert. Die Stadt verarmt aus diesem Grund immer mehr, 31% der Bevölkerung muss mit weniger als 945 Euro im Monat auskommen. Libération schildert in einer Bestandsaufnahme die 5 “Plagen” Marseilles, die den Niedergang der Stadt bewirkt haben:

Eine Rekord-Arbeitslosigkeit. Offiziell liegt die Arbeitslosenrate bei 13% , aber das statistische Amt INSEE stellte auf Grund seiner Erhebungen fest, dass 17,3% der ausgewerteten Personen sich als arbeitslos bezeichneten. Früher war der Hafen der größte Arbeitgeber insbesondere für ungelernte Beschäftige. Inzwischen ist der öffentliche Sektor zum größten Arbeitgeber geworden.

Schüler ohne Perspektiven. Es gibt ein Potential für Dienstleistungsberufe und qualifizierte Tätigkeiten im Tourismus. Dafür müssten aber die Aus- und Weiterbildung der dafür in Frage kommenden Bevölkerungsteile verbessert werden. Zur Zeit verfügen 24,8% der Marseiller über keinen Schulabschluss. Da es keine Arbeit gibt, besteht wenig Anreiz für die Schüler sich mehr anzustrengen.

Der öffentliche Nahverkehr. Die großen Industrieunternehmen befinden sich in etwa 30 km Entfernung von der Stadt. 500.000 Fahrten fallen deshalb pro Tag an, die zu 73% im Individualverkehr abgewickelt werden. Bei der Agglomeration Lyon sind es beispielsweise nur 47,4% (2006) mit sinkender Tendenz. Wer kein Auto hat, hat auch keine Arbeit. Jetzt sollen Bahnlinien in die Vororte gebaut werden.

Marseille ist keine Metropole. Weil die Vororte zum sogenannten “roten Gürtel” gehörten, dem man in der Phase des Kalten Krieges misstraute, wurde der Ausbau einer städtischen Gemeinschaft verhindert. Erst 2000 kam es zu einer Gemeindereform, bei der 18 Gemeinden eingemeindet wurde. Dabei befanden sich nicht die reichsten Vororte. Das arme Marseille bietet seinen reichen Nachbarn die Infrastruktur, weil diese in den Genuss der Großstadtangebote wie Krankenhäuser, Oper, Stadien usw kommen, aber dafür nichts bezahlen müssen. Hier sollen nun die Vorzüge und die Kosten geteilt werden. Die reichen Vorstädte wollen da aber nicht mitmachen. Nur ein gesetzlich festgeschriebene Einrichtung einer Metropol-Region würde die geizigen Nachbarn zum Mitmachen zwingen.

Klientelismus. Marseille ist die Stadt der Sich-Durchwurstelns und der Günstlingswirtschaft. Jemanden zu kennen, der “Verbindungen” hat,  ist wirksamer als im Besitz eines Diplom zu sein oder Leistungsbereitschaft zu zeigen. Es gibt keinen Anreiz mehr zu tun als notwendig. Einige der gewählten Lokalpolitiker kommt diese Günstlingswirtschaft recht, denn für kleine Vergünstigungen verpflichtet man sich die Wähler. Jugendliche in den benachteiligten Vierteln ohne Möglichkeiten eines potenten Förderers beklagen sich über die Benachteiligung.

Schlussfolgerung des Journalisten Olivier Bertrand in der Libération: “Die Bürger Marseille’s sind nicht dazu verdammt, Vorlage einer südländischen Karikatur zu sein. Sie haben zwar einen massiven Bedarf nach staatlichen Hilfen, aber der Staat muss ihnen auch helfen ihre Lebensweise los zu werden, die wie ihnen wie Blei an den Füssen hängt.”

Informationsquelle
Les cinq plaies de Marseille – Libération

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