Demoralisiertes Brasilien wählt einen neuen Präsidenten - Aus für Bolsonaro?

Die Internet-Zeitung "The Intercept (Brasil)" beschäftigte sich in den letzten Wochen eingehend mit den brasilianischen Präsidentschaftswahlen. Vor 4 Tagen schrieb sie in einem Newsletter (Auszüge):

Während wir uns noch fragen, ob der Ex-Präsident Lula die Wahlen im 1. Wahlgang gewinnen kann, lohnt es sich, noch einmal auf die Wochen zurückzublicken, die den Wahlen von 2018 vorher gegangen sind. 

Damals war es in Brasilien mehr oder weniger klar, dass der damalige Kandidat der PT, Fernando Haddad, und der Ex-Abgeordnete Jair Bolsonaro, der mit der Partei PSL antrat, in eine zweite Runde gehen würden. Lula war seit April im Gefängnis und Haddad übernahm die Kandidatur für die Partei. Die Prognosen sagten damals voraus, dass Bolsonaro im 1. Wahlgang vorne liegen würde und Haddad dahinter. Im 2. Wahlgang wurde für Haddad ein leichter Vorsprung auf Bolsonaro prognostiziert.

Einige Tage nach Veröffentlichung dieser Prognosen trat eine Person in Szene, die behauptete "die Wahrheit zu verkünden". Am 1. Oktober, 6 Tage vor der Wahl, hob der Richter Sergio Moro von Curitiba, den Geheimhaltungsbeschluss über die Aussage von Antonio Pelocci, Ex-Minister unter Lula und Dilma Rousseff, auf. Er machte erhebliche Beschuldigungen, ohne Beweise vorzulegen, dass Lula für sich Zahlungen im Zusammenhang mit den Regierungsgeschäften verlangt habe. Eine Behauptung die bereits von der Generalstaatsanwaltschaft in Curitiba ausgeschlossen worden war wegen fehlender Schlüssigkeit. Aber Moro galt als Richter "unschuldig", der wissen musste, was er tat. Und so beherrschte diese Angelegenheit innert kürzester Zeit alle Schlagzeilen.

Die Beschuldigung diente nur dazu, die Argumentation von Abgeordneten, die der PT feindlich gesinnt waren und auf der "Bolsonaro-Welle" schwammen zu unterstützen. Der Boden war gemacht, um Wut und Furcht zu säen.  Der Rest ist inzwischen schon Allgemeinwissen. Bolsonaro gewann, Moro wurde sein Justizminister, der dann dabei half die "Lava-Jato-Affäre" zu beerdigen. Er schied wieder aus der Regierung aus, weil er sich gegen den Präsidenten stellte und versuchte "als dritter Weg" ohne Erfolg selbst Präsidentschaftskandidat zu werden. Zur Zeit kämpft er verzweifelt darum, indem er sich wieder an seinen Ex-Chef Bolsonaro bindet, als Senator gewählt zu werden. Ironischerweise kann der Ex-Richter sogar in der von ihm gegründeten "Republik von Curitiba", die er in den glorreichen Zeiten, in denen er als Rächer im Mantel der Justiz auftrat, gegründet. Er ist inzwischen eine Karikatur seiner früheren Tage.

Man kann sich darüber freuen, dass der Richter mit bösen Absichten inzwischen von der Gesellschaft ignoriert wird. Aber man darf die Vergangenheit nicht vergessen, sondern wir wollen daraus lernen. In den zurückliegenden Jahren half es Moro,  das Land unter dem Slogan eines "Landes ohne Korruption" zu verändern. Er und die "Lava-Jato-Affäre" personifizierten den Wunsch der Bürger, dass die Politiker für das öffentliche Wohl arbeiten und damit ihre Steuerzahlungen respektieren sollten. Und als Justizminister legitimierte er die Regierung Bolsonaro dafür, das Land "moralisch aufzurüsten". Hier muss genau definiert werden als  wie und was man uns als Gesellschaft sieht. Die Hoffnung auf mehr Ethik und die Zustimmung der Brasilianer. Moro und Bolsonaro kapitalisierten dieses Gefühl.

Eine Untersuchung des Instituts Atlas an diesem Dienstag, 27. September, lässt klar, dass die Ethik als ein nationaler Wert immer noch präsent ist. In einer Frage über die Hauptprobleme Brasiliens bot das Institut den Befragten eine Liste mit Antworten an. Die Korruption befand sich auf dem 2. Platz der Befragten als das Hauptproblem des Landes. Sie verlor nur gegen dieses Problem: Armut und soziale Ungleichheit, Punkte die an 1. Stelle genannt wurden, Inflation auf dem 3. Platz und Arbeitslosigkeit auf dem 6.

In dieser Gemengelage fing das Jahr 2022 für Brasilien an. Nach einer Regierung mit Kürzungen - sie mag die Armen nicht - und einer Pandemie, die zu einem Fehlen von Geld und Würde führte, erträgt das Land nicht mehr das Elend, sei es bei Beschäftigung oder Einkommen, sei es bei der fehlenden Solidarität. Brasilien will keine peversen Theorien mehr wie die, dass eine Universität nicht für alle da ist, wie es der Minister Milton Ribeiro behauptete als er als Erziehungsminister in Geschäfte mit Bibeln und Goldbarren verwickelt war. Oder die Unterstellung, dass der Sohn des Pförtners nicht arbeite, aber dafür von Studentendarlehen im Saus und Braus lebte, so wie es der Wirtschaftsminister Paulo Guedes ausdrückte.

An dieser Stelle steht nun Lula. Der "Schlangenbändiger" wie ihn Ciro Gomes während einer Debatte nannte. Ob ihn nun seine Gegner lieben oder nicht, der Führer der PT geht Hindernisse an. Seine Herkunft aus der Armut, seine persönlichen Tragödigen, sein Haft nach einem zweifelhaften Prozess, der von einem karrieregeilen Richter durchgezogen wurde. Lula ist der Widerschein des tatsächlichen Brasiliens, der um zwei Finger Wasser in der Wüste bittet. Nach diesen Jahren der Dürre in den letzten ungastlichen Jahre scheint er der Richtige zu sein.

In einer kürzlichen Unterhaltung im Fernsehen zeigte Lula, dass er bereit ist, einem Land, das am Ende seines Atems ist, ein wenig Luft einzuhauchen. Er sagte, dass er den Mindestlohn, der seit 3 Jahren stagniert, erhöhen werde. Auf die Frage des Interviewers, wie er das erreichen wolle, antwortete er wie wenn es das selbstverständlichste wäre "durch die Erhöhung". Er bekräftigte, dass er die Erhöhung für einen Kernpunkt zur Erhöhung der Lebensqualität halte. 

In eine Land, im dem 37% der Bevölkerung vom Mindestlohn leben und  68% von bis zu 2 Mindestlöhnen, scheint dies ein elementares Element für diese Wahl. Wir sprechen von der Familienmutter, die anfing Holz zum kochen zu nehmen, als der Gaspreis ungeahnte Höhen errreichen, oder die prekär beschäftigten Arbeiter, die ihren Arbeitsplatz während der Pandemie verloren als die Regierung Bolsonaro verfügte das Sozialprogramm "Auxilio Brasil" für 2 Monate auszusetzen.

Dieser Sozialabbau auch in anderen Bereichen sorgte dafür, dass der Ex-Präsident Lula auch im Wirtschaftsbereich an Profil gewann. Lula hat recht getan, sich an das Brasilien der Basis zu wenden. Das kann ihm bereits den Sieg an diesem Sonntag bringen. Das ist wichtig für die Demokratie und die nationale Solidarität für die, die es am meisten brauchen. Wenn er wieder Präsident wird, kommt auch seine Chance sich mit dem Brasilien von Moro und Bolsonaro auseinanderzusetzen, mit einer Presse die bereit ist sich an seinen Fersen festzubeissen. So wie das bisher auch üblich war.
  

Wir sind abgebrüht und bewusst wie unser Brasilien in der Realität aussieht. Die die wir mit der Rückkehr der Demokratie 1985 und 1988 gezittert haben, wir haben jetzt schon grauen Haare und es bleibt uns die Weisheit, einem eventuellen Sieg ohne Leidenschaft und Manichäismus zuzuschauen. Es ist nicht das Risiko eines Staatsstreichs, der die großen Massen an die Urnen treibt, auch nicht, um Amazonien zu retten. Es geht bei der Wahl von Lula darum, dass 33 Millionen Brasilianer nicht mehr hungern müssen.

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