Rio de Janeiro: Das war keine Polizeiaktion, das war ein Massaker

Das Massaker in der Favela Jacarezinho von Rio de Janeiro Anfang Mai hat erneut gezeigt, dass der brasilianische Staat unterstützt von einem großem Teil der Gesellschaft immer noch kein anderes Mittel zur Bekämpfung der Gewaltkriminalität gefunden hat als wieder brutale Gewalt anzuwenden. Unter der Regierung Bolsonaro hat sich dieses Muster erneut verstärkt. Das Problem dieser Gewaltkriminalität ist, dass man sie nicht nur auf Drogenbanden zurückführen kann, sondern dass ein Teil von Polizei, Militär im Verbund von ehemaligen Polizisten dem Gewaltpotential dieser Banden in nichts nachsteht. Die "Milizen" wie sie genannt werden, wollen nicht Recht und Ordnung herstellen, sondern ihre Position in der kriminellen Szene sichern. Die Milizen werden gehätschelt und genießen das Wohlwollen der Polizei. Es gibt auch klare Hinweise, dass die Familie Bolsonaro in ihre Machenschaften verstrickt ist. 

Was passierte in Jacarezinho? Der Journalist Bernardo Cotrim undd Noemi Andrade, Direktorin der Erziehungsgewerkeschaft an der Bundesuniversität von Rio de Janeiro, schildern und erklären unter dem Titel "Ein Strom von Blut teilt Rio de Janeiro" die Ereignisse:

Die Favela von Jacarezinho, im Norden von Rio de Janeiro, wachte zum Lärm von Helikoptern und Schüssen auf. Das ausdrückliche Verbot seit Juni 2020 durch das Oberste Bundesgericht (STF), mit dem Polizeiaktionen in den Favelas untersagt wurden (außer in absoluten Ausnahmefällen und mit der Pflicht das Ministerium für Staatsanwaltschaft zu unterrichten), wurde offensichtlich durch die Zivilpolizei ausgehebelt, vor allem deswegen weil die erforderliche Mitteilung an das Ministerium der Staatsanwaltshaft erst lange nach Beginn der Aktion erfolgte. In der Operation "Exceptis", mit der das Anwerben von Kindern und Jugendlichen für kriminelle Aktionen verfolgt wird, wurde ein enormes Kontingent von Polizisten in die Favela verlagert. Das Ergebnis dieser Barbarei sind bis jetzt 25 Tote beim Massaker von Jacarezinho, womit es zur blutigsten Polizeiaktion wurde, die je in diesem Bundesstaat durchgeführt worden war. Unter den Opfern schätzt die Polizei etwa 24 "Verdächtige". Die Polizei informierte aber weder über deren Identität noch über die Umstände unter denen sie getötet wurde.

Die Berichte der Bewohner und die Szenen, die in den sozialen Netzwerken kursieren, sprechen für sich: 2 Bewohner wurden in der Metro auf der Höhe der Haltestelle Triagem angeschossen; eine Schwangere, die kurz vor der Entbidung stand, durfte ihr Haus nicht verlassen. Vor der Gesundheitsstation von Manguinhos wartete eine Reihe von Personen auf die Impfung gegen Covid-19; sie mussten in Deckung gehen, nachdem die Gesundheitsstation durch die Polizeiaktion nicht evakuiert werden konnte.
 
Ganze Familien wurden in ihren Häusern eingeschlossen und litten unter den Tränengasbomben, die von der Polizei verschossen wurden, während das Blut durch die Straßen der Favela floss. Gestorben durch Schüsse in die Seite, ein Frisörsalon, der von der Polizei bei der Verfolgung und Exekution eines Verdächtigen zerstört wurde. Eine angeschossene Person, auf dem Boden liegend, von der keine Gefahr mehr ausging, wurde mit zusätzlichen 4 Schüssen hingerichtet. Ein erschütterndes Schauspiel war, dass der Körper eine Person auf einen Stuhl gesetzt wurde mit dem Finger in den Mund gesteckt. Eine Barbarei.
 
Bei der Pressekonferenz nach Ende der Operation gab der stellvertretende Sekretär für Operationen der Zivilpolizei keine Erklärungen zum Hintergrund ab, stattdessen Selbstlob und eine Suada reaktionärer Ideologie, mit einem grotesken Wohlwollen für die Ereignisse. "Wir feiern nicht, aber wir haben verschiedene Kriminelle aus dem Verkehr gezogen"; "die richterlichen Aktivitäten beeinträchtigen die Tätigkeit der Polizei und fördern den Drogenhandel"; "die Polizei ist immer da, um die "gute" Gesellschaft zu schützen"; "die Zivilpolizei wird sich nicht davor drücken der guten Gesellschaft die freie Bewegung zu garantieren". Das war einige der beliebtesten Perlen des Polzeikommandanten, vermischt mit Kritik gegenüber "Pseudospezialisten für öffentliche Ordnung" und Rundumschlägen gegen "Aktivisten und Nichtregierungsorganisationen" und als Höhepunkt beschuldigte er diese, am Tod eines Zivilpolizisten bei der Operation schuldig zu sein.
 
Die Pressekonferenz wurde abrupt mit einem trockenen "unter dem Strich ist uns das nicht teuer zu stehen gekommen" in dem Moment beendet, als die Fragen der Sensationspresse endeten und Journalisten anderer Medien ihre Fragen stellen wollten.

Das Fiasko der Politik des Krieges gegen die Drogen ist keine Neuigkeit. Seit Jahrzehnten gibt es ihn in Rio, ohne Unterbrechung und es gibt kein Signal der Schwäche von Seiten des Drogenhandels. Erschrecken ist also die Banalität der Gewalt: Für eine Operation gegen die Mitarbeit von Kindern und Jugendlichen beim Drogenhandel, organisiert um 21 Haftbefehle zu vollziehen, wurde mit gepanzerten Fahrzeugen und Helikoptern die Favela gestürmt mit dem Resultat von 25 Toten. Haftbefehle ausgeführt? Gerade einmal sechs davon. Aber nach Meinung der Zivilpolizei war die Operation ein "Erfolg" und lamentiert wird nur über den Tod des einen Polizisten. Der Rest sind "24 Vagabunden", Wegwerf-Leben, in einem elastischen Konzept, das jedes mal mehr Teile der schwarzen Jugend und der in den Favelas lebenden Menschen trifft.

Der Bericht des Untersuchungsausschusses des Senates aus dem Jahre 2016 bestätigt das Massaker an schwarzen Jugendlichen in Brasilien. Darin steht, dass die "Anzahl der toten Jugendlichen in Brasilien eine soziales Problem ist, das nach dringenden, tiefen und vielschichtigen Maßnahmen verlangt. Darüber hinaus muss der brasilianische Staat sich mit mehr Sorgfalt um den existierenden, strukturellen Rassismus in der öffentlichen Politik im allgemeinen kümmern. Wenn nichts getan wird, wird unsere Jugend, vor allem die schwarze Jugend weiterhin sehr früh sterben, wobei Familien ihre Kinder genommen werden und Brasilien einer ganzen Generation von Kindern und Jugendlichen beraubt wird."

Seither hat sich das Problem verschlimmert. Der Aufstieg der Rechtsextremen mit dem Sieg von Bolsonaro um die Präsidentschaft und von Wilson Witzel als Gouverneur von Rio, wurde die Barbarei beschlossen und befördert, in der Praxis bedeutete dies eine Lizenz zum Töten: 2019 hat die Polizei allein 1.814 Menschen getötet, davon waren 86% schwarzer Hauftfarbe.

Die hohe Zahl an Toten setzte sich während der Pandemie fort, womit letztendlich das Verbot von Polizeioperationen durch das Oberste Bundesgericht verursacht wurde. Trotzdem gab es allein im Oktober 2020 ein Ansteigen der Getöteten um 415%, was das Oberste Gericht veranlasste, Erklärungen vom geschäftsführenden Gouverneur Claudio Castro (Witzel war zuvor aus dem Amt entfernt worden) zu verlangen.

Jetzt zeigt der neue Gouverneur, Claudio Castro, nach Beendigung des Impeachment gegen Witzel seine Visitenkarte. Die Operation in Jacarezinho erfolgte einen Tag nach einer Zusammenkunft des Gouverneurs, des Kommandanten für institutionelle Sicherheit, Marcelo Bertolucci und Präsident Jair Bolsonaro. Das absolute Einverständnis zwischen Gouverneur und Präsident verspricht uns neue verbrecherische Aktionen. Die Aktion von heute, die die größte Anzahl von Toten bei einer Einzelaktion in Rio de Janeiro verursachte, wird nur kurz den Spitzenplatz im Ranking des Todes einnehmen.

Rio de Janeiro erlebt eine zivisilatorische Krise, die seit langem den Fehlschlag unseres Gesellschaftsmodell bestätigte. Zwischen Leben und Tod zu wählen wurde zur einzigen Lösung, der Kreis der Gewalt ernährt den Drogenhandel, die Milizen sind jene, die den Gewinn aus den sich aufstapelnden Körpern ziehen, mit der Folge, dass einem signifikanten Teil der Bevölkerung ein Zusammenleben unter Verweigerung von Rechten zugemutet wird und auf diese Weise die makabre Statistik der Negation des Lebens vergrößert wird.


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